(Auszug aus Newsletter)

Im 16. Jahrhundert in England gab es zwei Arten von 1-Pfund-Münzen, eine aus Gold und eine aus Kupfer. Obwohl die Goldmünze mehr Wert war als die Kupfermünze (weil: Gold), war der Nominalwert der beiden Münzen gleich hoch. Das heisst, 1 Bier kostet 1 Pfund. Egal, ob mit der Gold- oder der Kupfermünze bezahlt. Das hatte Folgen: Die Menschen tauschten die Kupfermünze gegen die Goldmünze und schmolzen diese ein. Nachvollziehbar, lieber will man die Wertvollere behalten, wenn man das Bier auch mit der Billigeren bezahlen kann. Dieses Verhalten hatte aber eine ungewollte Konsequenz: Die wertvolleren Münzen wurden langsam von den billigeren Münzen verdrängt. Das Phänomen wird als Greshams Gesetz bezeichnet: Schlechtes Geld verdrängt gutes Geld.

Na und?

Dachten wir auch.

Aber in Greshams Gesetz steckt ein grundlegender, beunruhigender Verdacht:  Könnte es sein, dass generell das Schlechte das Gute verdrängt?

Nehmen wir den Journalismus. Journalismus ist ein Beruf, der auf Qualität beruht. Aber Journalismus ist auch ein Geschäft, das um Aufmerksamkeit buhlt. Und im digitalen Zeitalter ist die Aufmerksamkeit knapp geworden. Wie geht der Journalismus mit diesen beiden Ansprüchen um?

Eine Möglichkeit besteht darin, höchsten handwerklichen und ethischen Ansprüchen verpflichtet zu sein. Nennen wir es «guten Journalismus». Eine andere Möglichkeit besteht darin, den Anreizen und Zwängen des Marktes zu folgen. Man kann das als «schlechten Journalismus» bezeichnen. Journalist:innen stehen vor dem Dilemma: Lohnt es sich wirklich tief zu graben, lange nachzudenken und sorgfältig zu schreiben, wenn die Leute vielleicht eher reisserische News lesen? Medienunternehmen stehen vor dem Dilemma: Entweder sie senken ihre Standards und schliessen sich dem Wettbewerb um die Lesenden an, oder sie halten an ihren Prinzipien fest und riskieren, ihr Publikum zu verlieren. Und wir, die Leserinnen und Leser, stehen vor dem Dilemma: Sind wir bereit, Geld auszugeben für «guten Journalismus», wenn wir auch einfach gratis durch Instagram scrollen können?

Gemäss Greshams Gesetz würde sich schlechter Journalismus gegen guten durchsetzen. Es ist sogar eine wissenschaftliche Arbeit darüber verfasst worden.

Ähnliches kennt man aus in der Politik. Konstruktive Lösungen lassen sich schlechter verkaufen als grossspurige Ankündigungen oder aggressive Schuldzuschreibungen. Nach Greshams Gesetz ist es kein Wunder, dass überall populistische Parteien mit leeren Versprechen den Wählern den Kopf verdrehen.

Oder nehmen wir Greshams Kernfach, die Volkswirtschaft. Auch hier mehren sich Stimmen, wonach sich schlechte Theorien gegen gute durchgesetzt haben. Die neoliberale Hegemonie, also die Ausrichtung der Wirtschaft an Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung, droht jede andere Denkschule zu verdrängen – obwohl ihre Leistungsbilanz heute umstrittener denn je ist.

Natürlich ist das hier eine vereinfachte und rein hypothetische Anwendung des Greshamschen Gesetzes. Auch ist es kein Naturgesetz, sondern mehr eine Beobachtung menschlichen
Verhaltens. Aber genau darin liegt die Hoffnung. Denn Menschen können sich ändern. Wir alle – Unternehmerinnen und Konsumenten, Angestellte und Bürgerinnen – können uns dafür entscheiden, Qualität über Quantität, Substanz über Sensation und Gerechtigkeit über Profit zu stellen. Wir können uns dafür entscheiden, guten Journalismus und gute Politik und gutes Wirtschaften zu belohnen und schlechten Journalismus und schlechte Politik und schlechte Geschäfte abzulehnen.

Wir können uns dafür entscheiden, Greshams Gesetz umgekehrt anzuwenden: Gute Ideen verdrängen schlechte.

Wir haben die Wahl.